Martin Schulz analysiert die Herausforderungen für Europa vor der Europawahl 2014 und die Rede von Kommissionspräsident Barroso zur Lage der Union diese Woche in Straßburg.

Interview: Die Lage der Union in sechs Minuten

https://api.multimedia.europarl.europa.eu/documents/20125/16374868/n003-0259-de.srt

Martin Schulz, schönen guten Tag.  Es ist ein Ritual geworden:

Jedes Jahr im September  präsentiert Kommissionspräsident Barroso

die Lage der Union.  Er nimmt sich dafür 30 Minuten.

Ich gebe Ihnen mal eine Minute dafür.  Wie steht es eigentlich um die Union?

Die Lage der Europäischen Union  ist sicherlich nicht rosig.

Dieser Sommer war nicht so dramatisch  wie die vorherigen fünf Krisensommer.

Aber das Vertrauen der BürgerInnen ist  verschwunden und die Krise ist nicht vorbei.

Die Arbeitslosigkeit ist dramatisch hoch.  Wir haben viele Probleme zu lösen,

um Vertrauen zurückzugewinnen.  Das heißt, die Lage ist angespannt.

Aber man kann auch bis zur Europawahl  viel Vertrauen zurückgewinnen.

Ein Thema ist seit Juni  schon einigermaßen durch: das Budget.

Der Haushalt für  die nächsten sieben Jahre, 2014-2020.

Es heißt, im Jahre 2016  wird wieder ein bisschen diskutiert.

Heißt das Austerität bis 2016  in der Union?

Erstens ist nichts durch, denn wir haben  uns grundsätzlich über Summen geeinigt,

aber Gespräche mit Ausschussvorsitzenden  und Berichterstattern zeigen,

dass bei den jetzigen Verhandlungen über  die Rechtsgrundlagen zur Verausgabung

der Europäische Rat sich nicht  an alle seine Zusagen halten will.

Das erstaunt mich.  Darum ist noch gar nichts beschlossen.

Zum anderen werden wir 2016 eine  Revision der Finanzplanung vornehmen,

um zu sehen, ob wir mit dem gekürzten  Haushalt und den Ausgaben leben können.

Aber das, was Sie Austeritätspolitik nennen,  diese einseitigen Kürzungen,

von denen manche meinen, sie würden das  Vertrauen der Investoren zurückgewinnen...

Sie kennen die Position des Parlaments:  Ohne strategische Investitionspolitik

und vor allem den Kampf  gegen die Jugendarbeitslosigkeit

wird die Wirtschaft in Europa  nicht gesunden.

Es hieß oft, wir müssten warten,  bis Deutschland gewählt hat.

Nun wählt bald Deutschland.  Was passiert dann?

Dass Zurückhaltung herrscht,  große Entscheidungen zu treffen,

weil man nicht weiß, wer in Berlin  das Sagen haben wird, kann ich verstehen.

Die Bundesrepublik ist  das größte Land in der EU,

und wir haben auch nach Italien geschaut  und vieles blieb liegen,

weil wir wissen wollten, ob Berlusconi  oder eine andere Regierung gewinnt.

Wir haben auch auf Griechenland gewartet,  weil wir wissen wollten,

ob Herr Tsipras Premierminister wird  und welchen Einfluss das hat.

Es ist nicht spezifisch deutsch, wenn man  schaut, wer in Kernstaaten gewählt wird,

oder in Staaten, wo der Wahlausgang von  extremer Bedeutung für alle anderen ist.

Ich gehe deshalb davon aus,  dass nach der Wahl in Deutschland

der Stau, den wir zurzeit haben,  aufgelöst wird.

Während dieser Plenarwoche startet  das EP eine institutionelle Wahlkampagne.

Wie sehen Sie diese Kampagne  und die Wahl 2014?

Manche sagen,  es wird sich so einiges ändern.

Zu dieser Kampagne habe ich  keine Kommentare abzugeben.

Meine KollegInnen hielten die Kampagne  für notwendig. Ich habe sie nicht abgelehnt.

2014 ist ein Jahr, das Veränderungen  in Europa mit sich bringen wird.

Im Gegensatz zu den bisherigen Verfahren  für die Wahl des EK-Präsidenten,

wo der Europäische Rat einen Kandidaten  ernennt, über den das EP abstimmt,

ist es nun umgekehrt. Nach der Wahl  kommen die gewählten MdEPs hierher

und einigen sich auf einen Kandidaten,  den der Rat annehmen kann oder nicht.

Sind Sie auf jeden Fall  nächstes Jahr Kandidat?

Wir haben es  mit einer umgedrehten Situation zu tun.

Das EP einigt sich entsprechend  des Wahlausgangs auf einen Kandidaten.

Dazu gehört, dass die großen politischen  Familien - die Sozialdemokraten,

die Europäische Volkspartei,  die Liberalen, die Grünen, usw. -

KandidatInnen nennen, die als Nachfolger  von Barroso in ganz Europa geeignet sind.

Wen die Sozialdemokraten, meine  Parteienfamilie, aufstellen, wird sich zeigen.

Ich denke im Augenblick  nicht über den Wahlkampf nach,

sondern über die Lösung  kurzfristiger Probleme.

Ein Problem ist auf jeden Fall  die Außenpolitik.

Beispiel Syrien. Beispiel Ägypten.  Sollte man in Syrien intervenieren?

Ja oder nein? Und wie steht es  eigentlich mit der Außenpolitik?

Solange die Mitgliedstaaten  ihre partikularen Interessen

vor das europäische Gesamtinteresse  setzen,

kommen wir nicht zu einer gemeinsamen  Außen- und Sicherheitspolitik.

Erneut haben die beiden vetoberechtigten  Mitglieder des UN-Sicherheitsrates,

die auch EU-Staaten sind -  Großbritannien und Frankreich -

in solchen Fragen als souveräne Staaten  und nicht als EU-Mitgliedstaaten gehandelt.

Andere Mitgliedsländer,  auch Deutschland, handeln ebenso.

Von einer echten Außen- und  Sicherheitspolitik sind wir weit entfernt,

aber es ist nach wie vor zwingend  erforderlich, eine solche zu bilden.

Was den Militärschlag betrifft,  war ich skeptisch,

wie wohl die überwältigende Mehrheit  in Europa,

ob damit das Problem gelöst  oder gar verschärft wird.

Letzte Frage: Wenn Sie eine Priorität  erklären müssten, welche wäre es?

Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit,  eine Geißel auf diesem Kontinent.

Präsident Schulz, danke. Hoffentlich haben  Sie nächstes Jahr eine halbe Stunde Zeit.